Die Herausforderungen in der Pflegevorsorge
In allen Bundesländern wird bis 2050 die Anzahl der hochaltrigen Personen um das Zweieinhalb- bis Dreifache steigen, wenn auch die Entwicklung regional unterschiedlich ist.
Absehbare Folge dieser Entwicklungen: Die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen wird enorm zunehmen. Die Gesamtausgaben für Pflege- und Betreuungsdienste werden den Projektionen zufolge bis 2030 um 77 Prozent steigen.
Die damit verbundenen Herausforderungen werden vor allem auch auf kommunaler Ebene spürbar werden. Vor diesem Hintergrund hat das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) im Auftrag des größten privaten Pflegeheimbetreibers SeneCura und in Kooperation mit dem Österreichischen Gemeindebund in einer breit angelegten Studie die Bedürfnisse, Anliegen und Herausforderungen der Pflegeversorgung in den Gemeinden erhoben, analysiert und daraus Empfehlungen abgeleitet.
Gemeinden wünschen sich systematischer Information und Koordination
Die Befragung, an der 649 Gemeinden (und damit 31 Prozent der heimischen Gemeinden) teilgenommen haben, hat ergeben, dass aus Sicht der Gemeinden Nachholbedarf bei der Koordination der Pflege besteht.
Zum einen durch eine systematische Herangehensweise, um Informationen über den gegenwärtigen und künftigen Pflegebedarf der lokalen Bevölkerung zu erheben. Und zum anderen auch, um den Bewohnerinnen und Bewohnern der Gemeinde kompetente wohnortnahe Information und Beratung bieten zu können. Hier wird von den Gemeindevertreterinnen und -vertretern ein großes Defizit diagnostiziert.
Wunsche nach regionalen Pflegeinformationsstellen
Als Lösung findet vor allem die Etablierung von regionalen Pflegeinformationsstellen über alle Bundesländer hinweg großen Zuspruch. Diese würden einerseits eine Anlaufstelle zur umfassenden Beratung und Information rund um das Thema Altern und Pflege bieten und könnten andererseits auch die Entwicklung des regionalen Pflegebedarfs verfolgen und besser prognostizieren.
„Die Verbesserung der Bedarfsplanung für Pflegedienstleistungen sehen 64 Prozent (Tirol) bis 88 Prozent (Salzburg) der Gemeinden als wichtige mittelfristige Herausforderung an. Die Mehrheit der Gemeinden scheint derzeit keine systematischen Herangehensweisen zu verfolgen, um Informationen über den gegenwärtigen und künftigen Pflegebedarf der lokalen Bevölkerung zu erheben. Das ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen brauchen die Pflegebedürftigen und ihre Familien auf regionaler Ebene eine Ansprechperson, die über die Pflegeunterstützungs-möglichkeiten in einer Region Bescheid weiß. Zum anderen kann die Information über die regionalen Pflegebedürfnisse verwendet werden, um das Angebot an Pflegedienstleistungen dementsprechend anzupassen“, fasst Studienleiterin Ulrike Famira-Mühlberger, stellvertretende Leiterin des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO), den Befund zusammen.
Gemeinden fordern wohnortnahe Beratung in Pflegefragen
Die Analyse des WIFO aufgreifend, bekräftigt Gemeindebund-Präsident Alfred Riedl bei der Studienpräsentation: „Pflege muss da passieren, wo man wohnt! Zwischen 75 Prozent unserer Gemeinden in Tirol und 94 Prozent in Salzburg sehen die Herausforderung, dass pflegebedürftige Menschen pflegerische bzw. ärztliche Leistungen wohnortnahe in Anspruch nehmen können, als wichtig an. Wir müssen uns daher auf die wohnortnahe Organisation der Pflege fokussieren und dafür ist eine systematische Herangehensweise bei Information und Planung unerlässlich. Denn die Informations- und Beratungsaufgabe kann auch nicht – wie jetzt häufig der Fall – auf die Gemeinden abgewälzt werden“, bestätigt der Gemeindebund-Präsident.
Die Forderung nach einer wohnortnahen Beratung findet sich auch im aktuellen Regierungsprogramm und soll im Zuge der bevorstehenden Reform realisiert werden.
Das unterstützt auch Österreichs größter privater Pflegeheimbetreiber SeneCura. „Ganz entsprechend unserer Unternehmensphilosophie muss auch die Beratung in Pflegefragen näher an die Menschen rücken. Die stationären Pflegeheime wie unsere SeneCura Sozialzentren können hier einen Betrag leisten und in Zukunft vielleicht Aufgaben offiziell übernehmen, die sie jetzt sozusagen informell mitmachen“, kommentiert Markus Schwarz, COO der SeneCura Gruppe.
Gemeinden sind zentraler Ansprechpartner in Pflegefragen
Dass Pflegeheime schon heute eine ganz wesentliche Experten-Funktion in den Gemeinden haben, bestätigte die Gemeinde-Umfrage im Vorfeld der WIFO Studie Ende 2019 eindrucksvoll: Für 43 Prozent jener Gemeinden, in denen es stationäre Pflegeeinrichtungen gibt, sind diese die zentralen Ansprechpartner in Pflege-Fragen. Erst deutlich dahinter folgen das Gemeinde- und Sozialamt, Hilfsorganisationen und andere Institutionen.
Regionale Unterschiede bei den Strategien zum Ausbau des Pflegesystems
Da Pflegedienstleistungen in Österreich auf Länderebene organisiert werden, wird die Situation in den verschiedenen Regionen auch sehr unterschiedlich wahrgenommen.
Die gegenwärtige Leistungsfähigkeit von informeller Betreuung – also durch die Angehörigen – wird etwa in den Gemeinden der westlichen Bundesländer und im Burgenland als meist bzw. eher ausreichend eingeschätzt. Die Leistungsfähigkeit der Familien nimmt aber auch hier nach Wahrnehmung der Gemeindevertreterinnen und -vertreter stetig ab.
Bei der aktuellen Pflegeinfrastruktur weisen mobile Dienste und die 24-Stunden-Betreuung eine flächendeckende Verbreitung auf. Stationäre Einrichtungen sind in Westösterreich und der Steiermark häufiger vorzufinden.
Beim Ausbau der Pflegeangebote setzen die Gemeinden mit regionalen Unterschieden auf alle Arten von Pflegedienstleistungen mit Schwerpunkt auf dem Ausbau von betreutem oder betreubarem Wohnen und mobilen Diensten.
Die Befragungsergebnisse zeigen auch, dass die Kooperation zwischen mobilen und stationären bzw. teilstationären Pflegeeinrichtungen durchwegs hoch ist, jedoch nach Ansicht der Gemeinden noch weiter ausgebaut werden sollte.
„Auf individueller Ebene erweisen sich mobile und stationäre Pflege vorwiegend als zeitlich komplementäre Dienste – sie werden also, meist zeitlich hintereinander, gleichermaßen benötigt. Der zu erwartende Nachfrageanstieg in der stationären Pflege kann durch den Ausbau und die Förderung von Alternativen verzögert und abgeschwächt, jedoch nicht verhindert werden. Umso wichtiger ist eine Ausweitung der Zusammenarbeit zwischen den Pflegedienstleistern“, betont die Studienleiterin.
Finanzierung und ausreichend Pflegepersonal sind zentrale Herausforderungen
Eine wesentliche Herausforderung für die Pflegevorsorge in Österreich ist laut WIFO die äußerst komplexe Finanzierungsstruktur mit hoher Verflechtung zwischen den Gebietskörperschaften.
„Finanzierungs- und Aufgabenverantwortung sind zwischen unterschiedlichen Gebietskörperschaften verteilt – zumeist ohne gemeinsame Steuerung, sodass es zu Fehlanreizen und Ineffizienzen kommt. Während die Auszahlung des Pflegegelds in die Kompetenz des Bundes fällt, werden Pflegedienstleistungen vorwiegend von Ländern und Gemeinden finanziert“, erläutert der Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Christoph Badelt.
67 Prozent der Gemeinden bemängeln laut der Gemeinde-Umfrage von Ende 2019, dass aus ihrer Sicht beim Thema Pflege-Organisation und -Finanzierung bisher nicht ausreichend auf die Bedürfnisse der kommunalen Ebene Rücksicht genommen wurde.
„Aus Befragungen aber auch aus der Praxis wissen wir, dass der finanzielle Druck auf die Gemeinden immer größer wird, nicht nur durch die Corona-Krise. Seit Jahren steigen etwa schon die Ausgaben der Gemeinden für Pflege immer weiter. Im Zuge der anstehenden Reform brauchen wir endlich Klarheit über die langfristige Finanzierung des Pflegesystems“, so Gemeindebund-Präsident Riedl.
Der Österreichische Gemeindebund wird sich mit einem Reformpapier zur Pflege in die Debatten der nächsten Wochen und Monate einbringen.
In der WIFO Befragung geben alle Bundesländer und Gemeindegrößen durchwegs an, dass die Finanzierung des Pflegesystems als die größte Herausforderung betrachtet wird: 93 Prozent (Niederösterreich) bis 100 Prozent (Vorarlberg) der Gemeinden sehen die künftige Finanzierung des Pflegesystems als sehr wichtig oder (eher) wichtig an. Nahezu ebenso brennend ist die Herausforderung, über ausreichend Pflegepersonal zu verfügen. Diese Frage sehen 91 Prozent (Niederösterreich) bis 100 Prozent (Vorarlberg) der Gemeinden als sehr wichtig bzw. (eher) wichtig an.
Gute Erfahrungen mit privat geführten Pflegeeinrichtungen
In Österreich macht es für die Beziehenden einer Pflegedienstleistung keinen finanziellen Unterschied, ob diese von der öffentlichen Hand, einer privaten gemeinnützen Organisation (NPO) oder einem privaten Unternehmen geführt wird.
Nach ihren Präferenzen hinsichtlich der Trägerschaft gefragt, können sich vor allem jene Gemeinden, in denen sich bereits jetzt ein privates stationäres Pflegeheim befindet, ein privates Unternehmen als Träger vorstellen.