Abenteuerliche Rampen, die vielleicht für Lieferdienste oder Kinderwägen tauglich sind, stellen für Rollstuhlfahrer nicht selten ein unüberwindbares Hindernis dar. Foto: Shutterstock

Barrierefreie Wirklichkeit

Seit 1. Jänner 2016 sollten öffentliche Gebäude barrierefrei zugänglich sein. Zwischen Soll und Sein klafft allerdings nach wie vor eine beträchtliche Lücke. KOMMUNAL zeigt, wie die Kommunen ihre Gebäude in dieser Hinsicht zukunftsfit machen können.

Stufen, Schwellen, zu knapp bemessene Durchgangsbreiten, unerreichbare Toiletten, zu klein gedruckte Hinweistafeln, zu enge Aufzüge und deren Knöpfe vielleicht noch außer Reichweite. Für Menschen mit Behinderung ist der Alltag gespickt mit unüberwindbaren Hürden, die sie in viel zu vielen Fällen von einer eigentlich selbstverständlich sein sollenden Partizipation am Gesellschaftsleben ausschließen.Um diesem Missstand entgegenzuwirken, gibt es in Österreich eine Reihe von Gesetzen, darunter auch die Bestimmung, dass seit 1. Jänner 2016 alle öffentlich zugänglichen Gebäude barrierefrei sein müssen. So weit, so gut. Aber sind sie das auch tatsächlich? Nein, bei weitem nicht.



Für die Bauwirtschaft war das Inkrafttreten des neuen Behindertengleichstellungsgesetzes ein verheißungsvoller Moment. Man bereitete sich auf einen regelrechten Ansturm vor, vor allem auch im privaten Sektor, zumal wir immer älter werden und altersgerechtes Umbauen daher ohnehin schon aktuell ist. Doch der Andrang war äußerst überschaubar (und selbst das ist noch ein Euphemismus). Nicht nur seitens der Privaten, auch die Nachfrage durch Gewerbetreibende blieb aus. Diese wurden nämlich auch noch parallel dazu mit der Einführung der Registrierkassenpflicht getroffen und entschieden sich diesem Neuerungsgebot Priorität gegenüber der Barrierefreiheit einzuräumen. Aus gutem Grund: Die Nichteinhaltung der Barrierefreiheit hat für jene, die sie gewährleisten sollten, wenn, dann nur mittelbare und vergleichsweise schwache Negativkonsequenzen. Dass die Realisierung der diversen Adaptierungen auch in Österreichs Gemeinden recht schleppend vorangeht, liegt aber nicht daran, sondern vielmehr an der verwirrenden Rechtslage.

Erhebung über die Ist-Situation



Günter Porta ist gerichtlich beeideter Sachverständiger sowie Gutachter für behindertengerechte bzw. barrierefreie Baumaßnahmen. Im öffentlichen Bereich hat er gerade in den vergangenen Jahren für viele Gemeinden im Rahmen einer Begehung vor Ort einen sogenannten Ist/Soll-Vergleich erstellt. Dabei wurden zuerst jene Gebäude der Gemeinde erhoben, die gemäß den gesetzlichen Bestimmungen in Österreich barrierefrei sein müssen, wie das Gemeindeamt, Veranstaltungssääle oder Schulen.



In einem zweiten Schritt wurden dann die Maßnahmen beschrieben, die notwendig wären, um der Barrierefreiheit zu entsprechen. Sein Urteil über den Gesamtfortschritt punkto Barrierefreiheit in den Gemeinden fällt zwiespältig aus. Viele Gemeinden hätten zwar etwas unternommen, oft wurden Maßnahmen jedoch nur teilweise umgesetzt. Fast der Hälfte der Gemeinden attestiert er einen großen Nachholbedarf. Bei Gemeindeämtern wurde vergleichsweise noch am meisten gemacht, bei Schulen, die vom Geltungsbereich des Behindertengleichstellungsgesetz teilweise ausgenommen sind, aber auch unter die diversen Antidiskriminierungsgesetze auf Länderbene fallen können, sieht es schlechter aus, und bei Freizeiteinrichtungen ist die Lage häufig gar miserabel, so Porta.



Porta ist selbst Rollstuhlfahrer und war ehemals bei einer Gemeinde beschäftigt. Er kann daher auch bestens die Überlegungen der Gemeindeverantwortlichen nachvollziehen. Natürlich ist alles eine Kostenfrage, und wozu sollte man beispielsweise die entsprechende Aufrüstung einer Schule vornehmen, wenn es im Ort kein einziges Kind mit Behinderung gibt? Porta ist Realist und ihm ist vollkommen klar, dass eine Gemeinde nicht alles umsetzen kann. Er appelliert allerdings dafür, dass Gemeinden zumindest eine Standortbestimmung durch einen Experten durchführen lassen: „Wo stehe ich, und was müsste ich alles machen?“ Am meisten kritisiert er, dass viele Gemeinden sich nicht einmal einen Fachmann holen, der einschätzen kann, was alles notwendig wäre. Für die Schulaufrüstung gäbe es zum Beispiel nämlich sehr wohl gute Argumente. Doch alles der Reihe nach, denn erst sollte klar sein, wem denn eigentlich geholfen werden soll und wie die Gesetzeslage dazu überhaupt aussieht.



Rechtlich gesehen gibt es zwei Komponenten, eine zivilrechtliche und eine baurechtliche. Die zivilrechtliche kommt in Form des Behindertengleichstellungsgesetzes, das besagt, dass niemand diskriminiert werden darf. Aus diesem Kontext wird abgeleitet, dass jedem Menschen die Barrierefreiheit zugesichert werden muss. Es steht allerdings nichts darüber geschrieben, wie das zu erfolgen hat. Das Gesetz umfasst nicht nur bauliche Maßnahmen, sondern schließt weit mehr ein. Barrierefreies Internet, barrierefreie Unterlagen auf der Uni, barrierefreie Bücher etc.



Konkreter, aber leider nicht einfacher wird es, wenn man sich das Baurecht ansieht. Zunächst gibt es da die Önorm B 1600, die die Barrierereiheit definiert. Zugehörig auch die Önorm B 1601, B 1602 und B 1603, die Schulen, Tourismus etc. betreffen. Und dann existieren da noch genausoviele unterschiedliche Bauordnungen, wie es Bundesländer gibt, nämlich neun.



Diese neun Bundesländer haben eine Vereinbarung über die Harmonisierung bautechnischer Vorschriften beschlossen, eigentlich um Nutzungssicherheit und Barrierefreiheit zu forcieren. Dazu wurde das Österreichische Institut für Bauwesen (OIB) von den Ländern beauftragt, Richtlinien zu beschließen, die als Basis für die Harmonisierung der bautechnischen Vorschriften dienen und die von den Ländern zu diesem Zweck herangezogen werden können.

Keine österreichweite Regelung



Die Bestimmungen über Barrierefreiheit sind in der Richtlinie 4 geregelt, quasi einer zehnten Bauordnung, denn auch diese Verordnung kann schlagend werden. Der Plan österreichweiter einheitlicher Bestimmungen ist also nicht ganz aufgegangen, zumal es immer noch Bundesländer gibt, die sich ausnehmen, und die vor allem im Wohnbau gravierende Unterschiede aufweisen. So ist in Tirol bereits ab mehr als zwei Geschoßen im Wohnbau ein Lift zwingend erforderlich, in Vorarlberg erst ab mehr als vier Geschoßen. Warum auch immer.



Ein weiteres Problem ist das Fehlen einer Informationsstelle, die zuverlässige Aussagen darüber tätigt, was getan werden muss, und was getan werden kann. Für jene, die die Barrierefreiheit gewährleisten sollten, droht in der Praxis eigentlich nur von einer Seite Ungemach, und zwar dann, wenn sich ein Betroffener diskriminiert fühlt. Zum Beispiel, wenn er nicht ins Gasthaus oder ins Gemeindeamt hineinkommen kann.In diesen Fällen könnte derjenige eine Zivilrechtsklage einbringen. Allerdings wird zuvor beim Bundessozialamt ein sogenanntes Schlichtungsverfahren vorgeschaltet, wo man versucht mit den Betroffenen eine Einigung zu erzielen. Erst wenn dieses scheitert, ist die Klage möglich.

Keine Konsequenzen, wenn sich niemand diskriminiert fühlt



Im Klartext heißt das: Auch für Gemeinden gilt, bei Nichtumsetzung der Barrierefreiheit drohen keine Konsequenzen, solange sich niemand diskriminiert fühlt. Und selbst wenn das passiert, muss dieser zuerst mit einem Schlichtungsantrag herantreten. Zwar sind selbst im Falle einer erfolgreichen Klage die Strafen überschaubar und höchstwahrscheinlich kostengünstiger als der eigentlich notwendige Umbau, allerdings würde sich dieses Spiel stetig wiederholen können.



Im Sinne einer bürgerfreundlichen Verwaltung ist ein solches Vorgehen aber ohnehin nicht, womit wieder die Frage von vorhin bezüglich der Schulaufrüstung aktuell wird: Wozu barrierefrei umbauen, wenn es im Ort kein einziges Kind mit Behinderung gibt? Gerade bei Schulen ist die Situation besonders heikel, denn jedes Kind hat einen Anspruch darauf, die Ausbildung zu bekommen, die ihm zusteht. Durch Zuzug oder Unfall kann sich die Gegebenheit plötzlich ändern, und dann ist die Gemeinde sehr schnell unter enormem Zugzwang. Gibt es Stiegen im Schulhaus? Und kein Behinderten-WC? Plötzlich muss die Gemeinde ganz rasch reagieren. Rasch heißt teuer. Darum ist es vernünftig, nicht so lange zuzuwarten, bis die Akutsituation eintritt.



Bleibt die Frage, für welche Art der Behinderung man vorbereitet sein sollte. An wen denkt man, wenn man an Menschen mit Behinderung denkt? Das Stereotyp ist unbestritten der Rollstuhlfahrer. Der größte Prozentsatz sind tatsächlich die Gehbehinderten und unter ihnen ist der Rollstuhlfahrer das schwächste Glied. Die meisten denken nur an Gehbehinderte, und da das die größte Gruppe ist, ist es sicherlich gut, wenn in diese Richtung etwas getan wird.

Nicht nur Gehbehinderte



Die zweite große Gruppe sind Sehbehinderte, und die dritte Gruppe, die oft vergessen wird, sind die Hörbehinderten. Gerade Schulen und Gymnasien sind so gut wie gar nicht mit Induktionsschleifen ausgestattet. Hörbehinderte haben gar keine Chance bei Vorträgen, Vorleseungen oder im Unterricht alles mitzubekommen. In der Regel sitzen sie in der ersten Reihe und müssen sich irrsinnig konzentrieren um überhaupt irgendetwas mitzubekommen. Dabei kann man heute mit relativ geringen Mitteln wirksam Abhilfe schaffen. Es gibt mobile Geräte, bei denen der Vortragende in eine Art Mikrofon spricht, und während ihn alle anderen ganz normal hören, werden für den Hörbehinderten alle Nebengeräusche herausgefiltert, die Stimme des Vortragenden hingegen verstärkt.



Behinderungen können genetisch oder krankheitsbedingt sein. Sie können die Folge eines Unfalls sein. Die größte Gruppe an Menschen, die mit körperlichen Einschänkungen leben muss und für die Barrierefreiheit ein großes Thema ist, ist aber die ältere und älteste Bevölkerung. Wer nicht selbst betroffen ist, kann sich oft kaum vorstellen, was es bedeutet, wenn die Toiletten im Kellergeschoss aufzusuchen sind. Das Einfühlungsvermögen fehlt aber auch andernorts. Der Klassiker sind zu steile Rampen. Eine brauchbare Rampe sollte ein Maximalgefälle von sechs Prozent nicht übersteigen, doch wie oft sieht man solche, bei denen ein Rollstuhlfahrer schon die Gesetze der Physik außer Kraft setzen müsste, um sie zu passieren, vorausgesetzt er hat überhaupt die notwendige Muskelkraft?



Zugegeben, es ist schon eine Krux, es allen recht zu machen. Ein Rollstuhlfaherer etwa braucht eine schwellenlose Umgebung, damit er überall hinkommt. Ein Blinder orientiert sich jedoch genau an diesen Schwellen. Was empfiehlt sich also als bestmögliche Vorgehensweise für eine Gemeinde?

Länder fördern Umbauten



Am besten sollte man einen Fachmann konsultieren, um zu eruieren: Wo steht die Gemeinde derzeit und was ist alles notwendig?. Die daraus resultierenden Schritte können dann in Etappen umgesetzt werden. Die meisten Landesregierungen bieten dazu Förderungsmaßnahmen an. Bei der Wirtschaftskammer liegen die entsprechenden Adressen von Sachverständigen für barrierefreie Maßnahmen auf. Manche Bauträger, wie etwa die Böhm Stadtbaumeister & Gebäudetecknik GmbH, unterhalten eigene Komeptenzstellen für Barrierefreiheit. Auch der ÖZIV und gemeinnützige Vereine wie BIZEPS oder Motary unterstützen gerne mit unabhängigen Sachverständigen, oder aber man holt sich Anregungen von anderen Kommunen, die bereits erfolgreich adaptiert haben.



Korneuburg beispielsweise hat bereits vor dem Stichtag 1. 1. 2016 vier seiner fünf umzurüstenden öffentlichen Gebäude durchgehend barrierefrei gestaltet. In Lienz wurde das Hallenbad umgebaut, sodass bis hin zu den Saunen alles barrierefrei gemacht wurde. Auch das Gemeindeamt wurde entsprechend adaptiert. Die Sanierung der Volksschule Arnoldstein ist ein Vorzeigebespiel dafür, wie man aus einem im Laufe der Jahre gewachsenen Baukörper ein energieeffizientes Gebäude machen kann. Die Schule besteht aus Altbau, Aufstockung und Anbau, wurde hochwertig saniert und barrierefrei erschlossen. Erfreulicherweise gibt es in jedem Bundesland genügend Beispiele für erfolgreiche Umsetzungen. Genügend Beispiele wohlgemerkt, denn von flächendeckenden Umsetzungen sind Österreichs Gemeinden leider noch weit entfernt.