Brauchen wir „Community Nurses“?
Beginnen wir mit einer Begriffsklärung. International versteht man unter „Community Nursing“ im Wesentlichen das, was wir in Österreich als Hauskrankenpflege kennen: diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegekräfte (DGKP), die ältere und chronisch kranke Menschen zu Hause, an ihrem Wohnort, in ihren eigenen vier Wänden, professionell unterstützen, pflegen, begleiten und ihnen Hilfestellung bei behördlichen und organisatorischen Angelegenheiten bieten (z. B. bei der Beantragung von Pflegegeld oder der Anschaffung von Pflegehilfsmitteln).
Darüber hinaus sind sie für die Koordination – das sogenannte „Case-Management“ – zuständig: Im Bedarfsfall ziehen sie weitere Dienste hinzu, etwa die Heimhilfe für die Aufrechterhaltung des Haushalts und die Unterstützung bei der Körperpflege, und sie beraten bzw. instruieren pflegende Angehörige.
Mehr als klassische Hauskrankenpflege
In Österreichs Regionen sind aktuell rund 22.000 mobile Fachkräfte in der Hauskrankenpflege und Heimhilfe unterwegs und versorgen über 150.000 Menschen, das sind 33 Prozent aller Pflegegeldbezieher/innen. In Pflegeheimen werden im Vergleich dazu 21 Prozent der Pflegegeldbezieher/innen betreut, durch 24-Stunden-Betreuer/innen fünf Prozent.
Internationale Konzepte des „Community Health Nursings“, aber auch die erwähnten Vorhaben der Bundesregierung beinhalten im Unterschied zum einfachen Community Nursing mehr als das Handlungsfeld der klassischen Hauskrankenpflege.
Hinzu kommen eine weit umfassendere Beratung Pflegebedürftiger, Angehöriger und der Community (Gemeinde, Stadtteil, …) sowie das wichtige Thema der Prävention. Die diplomierten Fachkräfte in der häuslichen Pflege verfügen kraft Ausbildung und praktischer Erfahrung zwar über die notwendigen Kompetenzen, deren hinreichende Anerkennung steht aber aus.
Prävention und Beratung statt Pflegeheim
„Im Prinzip könnten wir in Österreich mit den diplomierten Fachkräften in der Hauskrankenpflege umgehend ein erweitertes Konzept des Community Nursings im Sinne eines Community Health Nursings umsetzen. Auch der gesetzliche Rahmen dafür besteht bereits“, meint Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich.
„Derzeit ist aber ein Teil unserer Beratungsarbeit und unserer Informationsdienstleistungen nicht in den Tätigkeitskatalogen der Länder und in der Regelfinanzierung abgebildet. Trotz dieser widrigen Rahmenbedingungen unterstützen wir ältere Menschen und deren Angehörige bestmöglich. Es wäre jedoch notwendig, hier Spielraum zu gewinnen, um vertiefende Information und Beratung anbieten zu können. Beides kann in den eigenen vier Wänden der Betroffenen stattfinden, aber auch in Kooperation mit den Gemeinden in kommunalen Einrichtungen. Das können Informationsveranstaltungen ebenso sein wie regelmäßige Sprechstunden und individuelle Unterstützung. Es geht einfach darum, eine klare und kompetente Anlaufstelle zu bieten, die rasch weiterhelfen kann. Unsere Erfahrung zeigt, dass solche Angebote gerne angenommen werden und überaus hilfreich und zielführend sind“, so Anselm.
Stiefkind Prävention
Kaum Beachtung findet in Österreich derzeit das Thema der Prävention. Gerade älteren und chronisch kranken Menschen hilft sie, Lebensqualität und Selbsthilfepotenzial zu stärken und möglichst lange zu erhalten. In diesem Kontext spricht man neben der Primärprävention, die auf den Erhalt der Gesundheit abzielt, auch von Sekundärprävention.
Ihr Ziel ist es, das Fortschreiten von Erkrankungen zu verhindern. „Langzeitstudien aus der Schweiz zeigen, dass durch viermal jährlich durchgeführte Hausbesuche die Einweisungen in Pflegeheime um 35 Prozent gesenkt werden konnten“, führt Monika Wild, Leiterin der Gesundheits- und Sozialen Dienste beim Österreichischen Roten Kreuz, aus (in: „Pflege Professionell“, 28/2020).
Community Nurses sorgen in der Gemeinde, im Sprengel, im Grätzel oder im Stadtteil mit präventiven Maßnahmen dafür, die Pflegebedürftigkeit bzw. den Verlust der Selbstständigkeit hinauszuzögern. Sie bieten Sprechstunden an und vermitteln ihr Wissen in Vorträgen sowie Workshops zu einschlägigen Themen wie Gesundheitskompetenz, Sturzprävention, Ernährung, Mobilität, barrierefreies Wohnen, etc. In regelmäßigen Abständen besuchen sie alle Menschen ab 75 Jahren und beraten sie individuell zu Hause.
Unkomplizierte Anlaufstellen
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie Community Nursing auf kommunaler Ebene zu organisieren ist und wer die 500 im Regierungsprogramm genannten Planstellen besetzen soll.
Mancher Bürgermeister und manche Bürgermeisterin hat nach Ankündigung der Maßnahme schon überlegt, wo er bzw. sie im Gemeindeamt Platz für den Schreibtisch der Community Nurse findet und wie viel im kommunalen Budget dafür veranschlagt werden muss.
In einigen Regionen Österreichs scheint das Modell einer auf Gemeinde- oder Bezirksebene angesiedelten Ansprech- und Koordinationsstelle als entscheidender „Hebel“ zur Verbesserung der Lage im Pflegebereich zu gelten. Immer mehr Ideen dazu kommen auf, immer mehr Verwaltungsschichten werden eingezogen.
Keine zusätzliche Bürokratie
„Ich halte das für eines der großen Missverständnisse in der Diskussion“, meint dazu Elisabeth Anselm. „Eine Community Nurse definiert sich nicht durch ihr Anstellungsverhältnis – etwa bei der Gemeinde oder bei den öffentlichen Händen, sondern durch ihre Tätigkeit und insbesondere durch den Nutzen, den Community Nursing bzw. Community Health Nursing für Betroffene und Angehörige bringen. Jede einzelne diplomierte Fachkraft, die uns ,draußen‘ bei den Leuten fehlt, ist angesichts der prekären Personalsituation im Sektor ein Desaster. Jede zusätzliche Schnittstelle bringt mehr Bürokratie, mehr Abstimmungsbedarf, mehr Dokumentationsbedarf. Und damit ein Mehr an Tätigkeiten, die die Pflege von den Betroffenen und Angehörigen entfernen sowie unsere Fachkräfte zermürben und frustrieren“, warnt Anselm.
Auch Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie, argumentiert ähnlich:
„Das Angebot des Community Health Nursings muss in die operativen Strukturen der mobilen Pflege und Betreuung integriert werden. Die Schaffung neuer Strukturen bindet unnötig Ressourcen, Finanzmittel und Fachpersonal in der Verwaltung und erhöht zusätzlich die Komplexität des Systems. Stattdessen sollte es darum gehen, die Komplexität für pflege- und betreuungsbedürftige Menschen und deren Angehörige zu reduzieren, unkomplizierte und gut erreichbare Anlaufstellen zu bieten sowie rasch und unbürokratisch konkrete Unterstützung zu leisten. Und es geht auch darum, verfügbare Ressourcen im Sinne der Effizienz und des Nutzens für die Betroffenen direkt in die Dienstleistung am Menschen zu investieren“, ist Schenk überzeugt. Er ist derzeit Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt (BAG), eines Zusammenschlusses der großen Pflege-Träger Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe.
Mehr Vertrauen in Pflegekräfte und Träger
In der laufenden Diskussion wird oft auf den „Buurtzorg“, das viel diskutierte niederländische Organisationsmodell der häuslichen Pflege, verwiesen. Buurtzorg ist ein gemeinnütziger Träger, dessen Gründer Jos de Blok vor allem an zufriedenen Kundinnen und Kunden, aber auch an motivierten Pflegekräften interessiert war.
Im Kern von Buurtzorg stehen selbst organisierte Pflegeteams, die mit besonderem Fokus auf lokale Ressourcen sowie informelle Möglichkeiten im direkten sozialen Umfeld die Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit ihrer Klientinnen und Klienten stützen. Rund 10.000 diplomierte Pflegerinnen betreuen etwa 70.000 nachweislich besonders zufriedene Kundinnen und Kunden. Und auch die Pflegekräfte profitieren.
Seit 2011 wurde Buurtzorg mehrmals zum beliebtesten Arbeitgeber der Niederlande gewählt. Die Fluktuationsrate der Buurtzorg-Pflegekräfte ist um 60 Prozent geringer als in anderen Pflegeunternehmen, die Krankenstandrate um mehr als ein Drittel niedriger.
Auch wichtig: Buurtzorg vertraut auf die Entscheidungsfähigkeit und das Können seiner Fachkräfte. Und die Kommunen und Finanzgeber vertrauen ihrerseits auf die Ergebnisse von Buurtzorg.
Man erwartet Kundinnen und Kunden, die fachgerecht versorgt sind. Und das wird auch kontrolliert. Wie die Pflegefachkräfte die Versorgung im Detail arrangieren, liegt in ihren Kompetenzen.
Auf Österreich umgelegt bedeutet dies, dass das Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit und Kompetenz der Pflegekräfte eine Grundbedingung für funktionierendes Community (Health) Nursing ist. Auch die Kooperation mit den Trägern und eine zeitgemäße Ergebnisorientierung gilt es zu erörtern. Für Praktikerinnen und Praktiker liegt recht klar auf der Hand, dass Organisation und Koordination, also das Case-Management als konzeptiver Teil des Community (Health) Nursings am besten dort aufgehoben ist, wo der laufende Kontakt mit Pflegebedürftigen und Angehörigen stattfindet: beim operativen Dienst.
Es ist höchste Zeit
Die Bundesregierung hat in ihrem Regierungsprogramm ein klares Bekenntnis dazu abgelegt, dass ältere Menschen die Chance haben sollen, so lange wie möglich selbstständig zu bleiben und zu Hause zu leben. Es ist daher nicht nur höchste Zeit, ein zeitgemäßes Konzept von Community (Health) Nursing für Österreich zu entwickeln, sondern den Stellenwert mobiler Dienste und der Hauskrankenpflege sowie die Potenziale von Trägern und Pflegekräften zu erkennen und darauf aufzubauen, statt neue Verwaltungsebenen einzuziehen.
Das würde nicht nur älteren Menschen und deren Angehörigen helfen. Es würde auch dazu beitragen, Ressourcen sinn- und wirkungsvoll zu investieren und dadurch langfristig die Budgets der Gemeinden zu entlasten.
Die Vorteile von Community (Health) Nursing als integraler Bestandteil mobiler Dienste
- keine zusätzlichen Schnittstellen, keine Doppelgleisigkeiten
- kein bürokratischer Aufwand für Bürger/innen, Gemeinde, Pflegekräfte und Träger
- fachliches und personelles Back-up für die Community (Health) Nurses
- reduzierter Personalbedarf durch funktionale Synergien
- direkte Nähe zu Umsetzung und Lösung
- Stärkung der Selbsthilfe älterer und pflegebedürftiger Menschen und deren Angehöriger
- Berücksichtigung lokaler Voraussetzungen und kommunaler Angebote
- Einbindung von Ehrenamt und Nachbarschaftshilfe
- Attraktivierung der Pflegeberufe