Demographie

Nicht Retro, sondern relevant: der ländliche Raum

11. September 2025
Die ländlichen Regionen Österreichs stehen im Spannungsfeld von demografischem Wandel, Arbeitskräftemangel und gesellschaftlicher Veränderung. Im Gespräch mit Regionalentwickler Josef Wallenberger mit Daniela Ingruber wird deutlich: Viele gängige Klischees über Landflucht und Überalterung greifen zu kurz. Zwar sterben in vielen Regionen mehr Menschen, als geboren werden – gleichzeitig ziehen junge Familien verstärkt aufs Land, angelockt von bezahlbarem Wohnraum, naturnahen Lebenswelten und neuen Chancen. Die Zukunftsfähigkeit ländlicher Gemeinden hängt laut Josef Wallenberger maßgeblich von neuen Wohn- und Betreuungsformen im Alter, guter Gesundheitsversorgung und moderner Infrastruktur ab. Auch flexible Mobilitätslösungen und kulturelle Angebote werden zunehmend wichtig. Dabei braucht es ein Umdenken: Stadt und Land sind keine Gegensätze, sondern Teil eines gemeinsamen Systems. Für Bürgermeister:innen und Lokalpolitik gilt: Kooperation statt Konkurrenz, Freude an der Gestaltung und Offenheit für neue Entwicklungen sind zentrale Erfolgsfaktoren, um den ländlichen Raum attraktiv und lebendig zu halten.

Herr Wallenberger, mit welchen Herausforderungen müssen Gemeinden und die Bevölkerung in den nächsten Jahren rechnen? 

Der demografische und der gesellschaftliche Wandel sind wirkliche Herausforderungen, doch die Schwierigkeit ist, dass sie manchmal nicht gleich greifbar sind. Im Zuge der Landesentwicklung Niederösterreich beschäftigen wir uns bereits seit 2005 mit diesem Thema und tragen es an die Kommunen und Regionen heran. Doch alles, was schleichend kommt, wird häufig nicht wahrgenommen.

Waren die aktuellen Entwicklungen schon länger sichtbar?

Ich bin ehrenamtliches Mitglied des Wirtschaftsforums Waldviertel und nannte bereits vor 15 Jahren einen Vortrag: „Gehen dem Waldviertel die Arbeitskräfte aus?“. Das wurde damals fast ein wenig belächelt, denn das Waldviertel hatte andere Zuschreibungen. Dabei war schon damals offensichtlich, was kommt: die alternde Gesellschaft, die Anforderungen an die Daseinsvorsorge und dadurch verbunden nicht nur die Gesundheitsversorgung, sondern auch die Frage, was dies für das Bürger:innenengagement und das Ehrenamt der Zukunft bedeutet. Denn davon leben der ländliche Raum und insgesamt die Gesellschaft stark.

Gleichzeitig ist der Arbeitskräftemangel gekommen, um zu bleiben, und natürlich macht die Demografie weder vor den Gemeinden noch vor den Unternehmen halt. Im Gesundheitsbereich sieht man es am besten: Die stärkere Nachfrage durch die alternde Gesellschaft, weniger Fachkräfte, Ärzt:innen und so weiter. Ich würde das Thema Gesundheit in Folge des gesellschaftlichen Wandels neben dem Arbeitskräftethema als eine der größten Herausforderungen auch für ländliche Räume nennen. Trotz einer wirtschaftlich schwierigen Lage bleibt dieser Arbeitskräftemangel aufgrund der demografischen Entwicklungen.

Wie unterscheiden sich die Entwicklungen am Land von jenen der Städte?

Wir arbeiten in unseren Projekten stark mit den Sinus Milieus© von Integral, die auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurückgehen. Damit teilt man die Bevölkerung nicht mehr nach sozioökonomischen Zielgruppen wie Geschlecht, Alter, Einkommen und so ein, denn da wären beispielsweise Andreas Gabalier und Conchita Wurst dieselbe Zielgruppe – und könnten doch unterschiedlicher nicht sein.

Wie sieht dies für den ländlichen Raum aus?

Früher gab es eine klassische Stadt-Land-Bruchlinie. In vielen Bereichen ist diese nicht mehr gegeben. Man kann nicht sagen, die Provinz ist provinziell und Urbanität bedeutet Fortschritt, sondern die Typologien mischen sich. Sie finden am Land wie in der Stadt viele Hedonist:innen. Umgekehrt gibt es das Phänomen einer konservativen Jugend mit Sehnsucht nach der Vergangenheit. In unserer Jugend war es hinten finster und vorne lag die Zukunft. Für viele Junge wartet nun vorne die Krise und hinten heißt es: „Ihr habt es gut gehabt.“

Auch im Ländlichen ist es komplex geworden. Städte wie Krems mit 25.000 Einwohner:innen haben die gleiche, volle Palette von Migrations-, Schul-, Hotspot-Themen, bis hin zur Bodennutzung wie Großstädte. Die großen Themen wie gesellschaftlicher und demografischer Wandel sind heute im städtischen ebenso wie im ländlichen Bereich auf der Agenda, auch in Kleingemeinden. Auch die kleinteiligen Strukturen und die Aufgabenvielfalt der Kommunen halte ich für sehr komplex im ländlichen Raum, und diese wirkt unmittelbar auch auf die Lebensqualität der Bürger und Bürgerinnen.

Wie steht es um die Lebensqualität im Alter in den ländlichen Regionen?

Wir kennen das Ideal, „möglichst lange selbstbestimmt zu Hause“ zu leben, mit Unterstützung von Allgemeinmediziner:innen und Community Nurses, aber irgendwann geht es nicht mehr. Die Alternative, dass die Menschen in die Pflegeheime abwandern, das wird es auch nicht mehr spielen, weil wir uns diese Kapazitäten in Österreich nicht mehr leisten können werden. Also braucht es eine Mischform, wo Wohnen mit Betreuungsangebot und Supportangebot möglich wird.

Etwa Wohngemeinschaften, wie sie die Studierenden haben?

Da gibt es ein Potpourri und das Thema „mitalternder Wohnraum“ ist dabei ein Schlüsselwort. Das ist nicht immer ausgefeilte Technologie, das kann auch ein Kontraststreifen sein, damit man erkennt, wo die Stiege beginnt. In Sachsen-Anhalt hat man gesehen, dass es vor Weihnachten zu sehr vielen Schenkel- und Beinbrüchen kommt. Ganz einfach, die Leute stellen in der Adventzeit elektrische Holzbögen mit Lichtern auf – die gibt es bei uns ja auch – und stolpern über das Kabel. Eine Steckdose in der Fensterleitung und das Thema ist erledigt. Es sind oft die einfachen Dinge, die helfen.

Und die Pflege?

Der Gesetzgeber müsste die Möglichkeit geben, dass eine 24-Stunden-Betreuung, bewusst nicht Pflege, sondern eine 24-Stunden-Betreuung bis zu drei Personen bzw. drei Wohneinheiten in einem Objekt betreuen kann. Das heißt, wenn ich heute sechs Wohneinheiten schaffe und eine gescheite Einliegerwohnung für zwei Betreuerinnen, die Komfort haben und nicht allein sind, können sie sechs Parteien betreuen, zudem Räume für Community Nursing, für Tele-Health und so weiter, oder auch für einen Friseur, der einmal vorbeikommt.

Wir brauchen da neue Formen, ein Zwischending zwischen autonom zu Hause, mit pflegenden Angehörigen, die es immer weniger gibt, und dem Pflegeheim. Das sind infrastrukturelle Herausforderungen.

Was brauchen die Menschen also, um am Land gut leben zu können?

Es ist nicht so einfach, weil „die Menschen“ gibt es nicht in diesem Zusammenhang. Es hat mit Sozialisierung zu tun, mit dem Milieu, aber auch mit Lebensphasen. Der Kern ist das: ein leistbarer, vernünftiger Wohnraum, eine gewisse Basisinfrastruktur, die aber sehr unterschiedlich gestaltet ist. Im Ländlichen muss man auch sehen, die Lokalität ist ein Thema, aber auch das Kommen und Gehen.

Wie sieht es mit der Abwanderung nun wirklich aus?

Ich teile die Aussage von der Landflucht und „die Alten kommen und die Jungen gehen“ nicht. Unsere Erfahrungen und datenbasierten Recherchen sind ganz andere. Ja, es gehen die Jungen aber es kommen auch die Jungen und bringen Kinder mit. Für viele ist die Frage: „Wo soll mein Kind aufwachsen“ Motiv für das Leben am Land. Später, wenn die Kinder draußen sind oder es berufliche oder persönliche Veränderung gibt, kann es auch wieder heißen, neue Standorte zu überlegen. Sozusagen gibt es zwei Arten von Landflucht: weg vom Land aber auch raus aus der Stadt aufs Land.

Man hört immer wieder, dass bestimmte Regionen Österreichs in wenigen Jahrzehnten problematisch leer sein werden. Ist das dann also falsch?

Ich habe dafür auch eine Zeitlang gebraucht, weil einfach ist es nicht. Manche Medien, aber auch viele Beobachter:innen sehen den Rückgang der Bevölkerung als Landflucht und sprechen von Abwanderungsgemeinden und Abwanderungsregionen. Ich maße mir jetzt nicht an, österreichweit eine belastbare Aussage zu treffen, aber in vielen klassischen ländlichen Regionen, die früher als diese dislozierten Standorte, als die benachteiligten Regionen gegolten haben, etwa Südburgenland, Waldviertel, Mühlviertel, Lesachtal, wie sie alle heißen, wenn Sie da genau hinschauen, haben Sie in den letzten 15 Jahren in den meisten dieser Regionen fast jedes Jahr eine positive Wanderungsbilanz. Es ziehen mehr Menschen zu, als wegziehen. 

Das Problem ist, dass die Geburtenbilanz nicht ausgeglichen werden kann. Das heißt, der hohe Anteil der älteren Menschen, durch die Abwanderung der 1970er, 80er, 90er Jahre, verursacht jetzt den Saldo. Es sterben viel mehr weg, als geboren werden. Und der positive Zuzug kann das nicht ausgleichen.

Also der Zuzug verpufft quasi?

Die Folge der alternden Gesellschaft führt zu den Schrumpfungen, nicht die Landflucht. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, etwa das Waldviertel, da machen wir seit 15 Jahren Wohnstandortmarketing. Wenn ich frage, wer wegzieht: „Na, die Jungen sind weg.“ Wer zieht zu? „Na, die Alten.“ Nein, überhaupt nicht. Es sind die Jungen, die gehen. Und es sind die Jungen, so 26 bis 34, die kommen.

Mit Familien wahrscheinlich? 

Die bringen Kinder mit, genau. Das ist nicht in allen Regionen Österreichs gleich. Wenn Ältere kommen, sind das im Waldviertel eher keine Rückkehrer, sondern sie kommen ganz von woanders her. Die kommen aus Tirol wegen der Wohnpreise oder weil sie näher zu den Kindern nach Wien rücken wollen. Aber die Waldviertel-Rückkehrer, das ist ein interessantes Phänomen. Die sind zu einer Zeit weggegangen, als das Waldviertel wirklich wenig geboten hat. Die mussten gehen, haben es mit viel Eifer geschafft, sich in Wien etwas aufzubauen und haben alte Bilder der Heimat im Kopf: „Was tue ich dort, da gibt es ja nichts.“ 

Das ist im Südburgenland anders. Die haben eine viel höhere Bindung, da kommen die Leute auch nach 40 Jahren wieder zurück. Also, es ist nicht ganz harmonisch verteilt, aber in den seltensten Fällen ist die Wanderungsbilanz das Problem für das Schrumpfen. Die Babyboomer, wenn deren Mortalität beginnt, dann haben die wieder ein großes Problem.

In Oberitalien kennt man diese fast leeren Orte. Ist es dort vielleicht anders?

Da haben Sie eine andere Stadtstruktur. Wenn Sie etwa in die Emilia Romagna gehen, da ist es noch stärker ausgeprägt. Was Sie beschreiben, gibt es in Spanien, im Gebirgsmassiv und so weiter. Es gibt es auch in Österreich, aber nicht so ausgeprägt. Diese wirklich leergeräumten Räume sehe ich in Österreich nicht, da sind wir zu „verwurzelt“ und kleinräumig organisiert als Gesellschaft.

Wie sieht es dann mit Kärnten aus? Es heißt doch immer wieder, dass es dort die größten demografischen Probleme gäbe.

Ja, wobei Kärnten ein Spezialfall ist, mit der negativsten Bevölkerungsprognose. Da spielt viel zusammen in Kärnten. Dort gibt es auch ein Wanderungsthema, weil der Zuzug nicht in dem Ausmaß passiert. Man wird sehen, was die neue Bahnverbindung so alles bringt. Aber in Kärnten, würde ich sagen, trifft es mit der Landflucht am ehesten zu, wobei es auch dort Gegentrends gibt, die Landschaft attraktive Räume bietet und in den letzten Jahren viel in die Bildungs- und Standortinfrastruktur investiert wurde.

Kehren wir zum romantischen Bild vom Landleben zurück. Was ist heute damit?

Ich bin mittlerweile in einer Generation, in der man schon mehrere Landbewegungen erlebt hat. Das waren in den 1970er Jahren eher Aussteiger, ökologisch Orientierte, Anti-Atombewegte. Und jetzt haben wir wieder eine Landbewegung. Ich glaube, den Run aufs Land beeinflusst auch die permanente Abfolge von Krisen. Je krisenbehafteter Zeiten sind, umso stärker suchen Menschen eine Überschaubarkeit, Vertrautheit. Und das ist natürlich eine Zuschreibung, die man vom Land noch hat. Das ist zum Teil klischeehaft, denn das soziale Leben am Land hat wie die Durchmischung der Milieus viel verändert.

Provinz ist heute nicht mehr provinziell. Gehen Sie in eine gut sortierte Trafik, Sie werden einen Laufmeter an Zeitungen mit Titeln finden wie Landliebe, Landlust, Landküche, Landkinder, Land, Land, Land. Diese Sehnsucht nach dem Landleben ist bei vielen Menschen da: Jahreskreise erleben zu können, Sicherheit, ein Wohnraum, den man sich woanders nicht leisten könnte, raus aus der Hektik. Diese Stärken des Ländlichen waren früher keine strategischen Stärken. Man ist einfach damit übergeblieben. Und heute zählt das plötzlich. Das ist eine Werte-Geschichte.

Aber das Landleben ist nichts für „Weicheier“. Es kann ganz schön herausfordernd sein, aber es hat halt schon auch seine Anziehung. Auch das Angebot ist nicht schlecht im ländlichen Bereich, von der Schule bis zur Medizin. Das reden wir uns oft schlechter, als es ist. Und wir haben in vielen Räumen ein vielfältiges kulturelles Angebot. 

Ja, es ist verstreut, aber wenn man es in Erreichbarkeitszeiten statt in Kilometern rechnet, sieht es besser aus und auch die urbanen Zentren sind in den meisten Regionen Österreichs in einer guten Stunde erreichbar. Man braucht allerdings oft ein Fahrzeug, da aufgrund der dislozierten Lage vieler Orte ein attraktiver öffentlicher Personennahverkehr flächendeckend nicht machbar ist. Darin liegt noch ein Engpass, aber bedarfsorientierte Zusatzangebote bringen eine Überbrückung bis zur Verfügbarkeit von autonomen Fahrzeugen als nächster Game-Changer für den ländlichen Raum.

So schön die ländlichen Regionen sind: Es ist ein Unterschied, für eine Woche auf Besuch zu kommen oder immer am Land zu leben. Lässt es sich in ein paar Sätzen erklären, was jüngere erwerbstätige Leute brauchen, vielleicht mit Familien, damit sie aufs Land ziehen können?

Es gibt Menschen, für die ist das Ländliche nett, schön zum Besuchen, eine „persönliche Tankstelle“, um einmal aufzuladen, nicht als Hauptwohnsitz, sondern Tourismusziel. Aber es gibt viele Menschen, die sagen: In meiner Lebensphase oder in meiner Sehnsucht und Werthaltung, ist es genau das, was ich jetzt suche“, manche auch mit Standorten in der Stadt und am Land. Früher sagte man, „bei euch in der Provinz bekomme ich keine Arbeit“, das ist heute anders. Der Arbeitsmarkt ist ein Suchender, auch im Ländlichen. Bei Familien, die einen Zuzug überlegen, braucht man aber für zwei Leute einen passenden Arbeitsplatz. Das macht es oft schwieriger. Ein positives Argument ist das Thema Kleinkinderbetreuung, wo viel investiert wurde und wird. Das ist ein wichtiger, ein harter Standortfaktor geworden. 

Wie steht es mit dem Wohnraum?

Wohnraum spielt eine große Rolle. Ein hoher Prozentsatz der Österreicher:innen träumt vom Haus mit Garten. Das kann man sich in der Stadt abschreiben. Bei der Motivforschung hört man viele sagen: „Ich hätte mir nicht gedacht, dass ich für meine Wohnung, die ich in den 1980er-Jahren gekauft habe, so viel Geld bekomme. Ich leiste mir meinen Wohnraum im Grünen, im Ländlichen, weil es ungleich hochwertiger ist. Das sind Push-and-Pull-Faktoren. Und dann schon auch, dass diese Zuschreibung zum Ländlichen in Summe besser geworden ist. Nicht mehr das Klischee der Hinterwäldler, sondern es hat eine Milieu-Durchmischung gegeben.

Wenn man genau hinschaut, finden Sie Angebote, die sind sensationell. Von den ausgefallensten Kulturspalten bis hin zu Sportangeboten. Es ist aufwändiger und es ist räumlich größer zu sehen. Deshalb arbeiten wir stärker mit dem Argument der Erreichbarkeitszeiten, nicht mehr mit Entfernungskilometern. Aber die Schwäche ist die Komplexität, wie man den öffentlichen Verkehr gut anbinden kann, weil man schnell zwei Autos braucht. Eines verrostet oft auf dem Bahnhofsparkplatz. Da ist sehr viel Kapital gebunden. Da muss uns noch viel einfallen im Ländlichen.

Das bedeutet, dass Infrastruktur ein großes Thema bleiben wird?

Ja, aber Infrastruktur meint hier nicht nur: Glasfaser eingraben. Wir haben viele ländliche Regionen, da haben wir Glasfaserzugang, von diesen Angeboten träumst du teilweise in der Stadt. Aber was tut man dann damit? Da braucht es zusätzliche Impulse.

Aber der Gedanke ist nicht Stadt oder Land, sondern es geht um Stadt und Land. Man muss es als System denken. Menschen sind halt sehr mobil. Und sie träumen vom Wohnen draußen und wollen trotzdem angebunden bleiben an die Freunde in der Stadt.

Die Corona-Zeiten haben einen Hype beim Zuzug gebracht, der ist wieder abgeflacht, auch weil das Bauen und Sanieren teuer geworden ist und die Leute durch die „unsicheren Zeiten“ verunsichert sind. Es gibt ein Auf und Ab, aber im Trend ist die Zuzugsentwicklung nicht so schlecht.

Aufgrund eines neuen, verantwortungsvollen Umgangs mit Grund und Boden gewinnt die Nutzung von Bestand und Leerstand stark an Bedeutung. Wir empfehlen den Gemeinden immer einen Blick nach vorne, nicht nur darauf was gerade verfügbar ist. Der potenzielle Leerstand oder die Unternutzungen sind teilweise enorm. Wir betreiben eine Leerflächendatenbank und sehen in vielen Gemeinden, wieviel tatsächlich nicht verfügbarer Leerstand bereits vorhanden ist. Wobei die Gründe dafür sehr unterschiedlich sind, und wenn dann die Mortalität der Baby Boomer einsetzt, wird es richtig spannend. 

Gleichzeitig ist in den Köpfen noch immer diese Überbevölkerung. Das ist übrigens ein Wort, das ich nie mochte.

Wie Überalterung. Das suggeriert, dass wir zu viele ältere Menschen haben. Gott sei Dank werden wir älter! Die alternde Gesellschaft ist die Herausforderung. Bei der Überbevölkerung ist es komplizierter, Ernährungssicherheit usw., aber der Peak ist erreicht. Langfristig schrumpft die Weltbevölkerung.

Was können Bürgermeister:innen und Lokalpolitiker:innen machen, um in den Gemeinden ein Gleichgewicht zu schaffen, wenn Sie sagen, es ziehen zwar Familien hin, aber mit zu wenigen Kindern? 

Wenn man die Gesamtwanderungszahlen in Österreich nach Lebensalter betrachtet, ist das immer das Bild einer Glocke oder eines Baumes. Die Wanderungsbewegung ist mit ca. 30 Jahren am stärksten und die Kinder gehen mit den Eltern mit. Die Veränderung des Hauptwohnsitzes nimmt im Alter ab. Das ist nur so eine Zuschreibung, dass man glaubt, die Alten kämen zurück.

Ich hätte mir früher nie gedacht, dass man sich über das Gesundheitssystem in der Standortentwicklung solche Gedanken machen muss. Das ist ein wichtiger Standortfaktor, nämlich bei den Älteren, sie zu halten, ihnen ein langes Leben zu gönnen in der Gemeinde, aber natürlich auch bei den Jungen, die zuziehen. Gerade im Alter und in der Kindheit stellt die Arztversorgung ein wichtiges Thema dar. Gleichzeitig nehmen uns die enorm steigenden Gesundheitskosten durch das Umlagesystem jeden Spielraum im Gemeindebudget.

Und das Zweite, das ich thematisieren möchte: Gemeinwesenarbeit muss wieder Spaß machen!

Ich bewundere die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen. Denn der Bürgermeister ist nicht der Erste unter den Gemeinderäten, er ist ein Amtsvertreter, eine hoheitliche Person, er hat eine Gesetzesverantwortung und steht auch vor Gericht, wenn es darauf ankommt. Man hat kaum finanziellen Spielraum und die Mittel für Ermessensausgaben schrumpfen bei gleichzeitig steigenden Aufgaben und Herausforderungen, weil unsere Gesellschaft komplex ist. Die Funktionäre ersticken in Terminen, man kann ja alles gar nicht mehr überschauen, was da zu tun ist, selbst in einer kleinen Stadt mit einem Apparat dahinter. Und das drückt auf die Stimmung, hier braucht es dringend Entlastungen, damit man wieder sagen kann: Es macht Freude, diese Buntheit der Gesellschaft anzuerkennen und mit den vielen Aufgaben leben zu können.

Es braucht Rückhalt, und da sind interkommunale Kooperationen und Partnerschaften essenziell. Ein schönes Beispiel ist die langjährige, professionelle Zusammenarbeit von 64 Gemeinden zur Wohnstandortvermarktung und -entwicklung „Wohnen im Waldviertel“, wo man sich gegenseitig stärkt, in größeren Radien denkt und Lösungen sucht, ohne die kleine Einheit aufzulösen. Die in der Verfassung klug festgeschriebene autonome Gemeinde ist aus meiner Sicht auch ein fundiertes Modell für „Bürgerbeteiligung“. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen, indem die Gemeinden mit Aufgaben überlastet und finanziell ausgehöhlt werden.   

Grundsätzlich bin ich Optimist. Ich denke wir stehen in einem Wettbewerb und sind mit Veränderungen konfrontiert, die nicht immer einfach sind. Ich halte es für einen ganz wichtigen Punkt, nicht mit der oft typischen österreichischen Haltung „ja, aber“ an Fragestellungen heranzugehen, sondern mit der Aufforderung „ja, wenn wir das und das tun, dann werden wir Erfolg haben.“

Und „Ja, gemeinsam“ auch, oder?

Ja, auch gemeinsam. Ich halte das für eine der größten Herausforderungen, denn die Bürgermeister:innen stehen unter einem enormen Druck – was öffentlich oft gar nicht anerkannt wird. Gleichzeitig gilt: je kleiner die Gemeinde, umso näher bei den Menschen. Und die Menschen sind heute fordernd, oft hart in der Formulierung und resistent gegenüber Argumenten und Fakten. Es gibt scheinbar viele Wirklichkeiten. 

Aber wenn es gelingt, wieder mehr Spielraum in die Gemeindearbeit zu bringen, mehr Zusammenarbeit und damit verbunden Rückhalt zu schaffen und ein bisschen entspannter an die Arbeit heranzugehen, dann hat die Ebene der Gemeinden eine enorme Wirkmächtigkeit. Mit gestärkten Systemen und Persönlichkeiten steht das Wiedererstarken des ländlichen Raumes erst vor uns.


Josef Wallenberger ist seit vielen Jahren in der Regionalentwicklung tätig. Ende der 1980er Jahre war er Obmann der ÖAR – Österreichische Arbeitsgemeinschaft für eigenständige Regionalentwicklung und gründete 1998 gemeinsam mit Gerhard Linhard die Wallenberger & Linhard Regionalberatung, deren Geschäftsführer er ist. Er lebt in Niederösterreich und ehrenamtliche Tätigkeiten gehören für ihn zum Alltag. 

Das Interview mit Regionalentwickler Stefan Wallenberger führte Daniela Ingruber vom Institut für Strategieanalysen (April 2025).

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