Düngemittel
Ein gutes Beispiel für Polykrisen als Herausforderung ist das Thema der weltweiten Ressourcenkette von Phosphor als zentralem Element einer anzustrebenden globalen Nahrungsmittelsicherheit.
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Herausforderung für Wissenschaft und Praxis

Der Ländliche Raum und seine „Polykrise“

“You know, farming looks mighty easy when your plow is a pencil, and you're a thousand miles from the corn field.” („Wissen Sie, Landwirtschaft sieht ganz einfach aus, wenn Ihr Pflug ein Bleistift ist, und Sie tausend Meilen vom Kornfeld entfernt sind!“ Dwight D. Eisenhower, Präsident der USA, Rede an der Bradley University, Illinois, 25. September 1954

Was wir sehen, liegt zu einem großen Teil im Geiste - also an den Vorstellungen, die wir bereits in unserem Kopf haben - mehr noch als im Auge des Betrachters.

Das gilt auch, wenn wir als Wissenschaftler einen Blick auf den ländlichen Raum in Österreich werfen. Durch die Brille des Wissens- und Kommunikationsmanagements - so lautet der Name des Departments der Autoren an der Universität für Weiterbildung Krems (UWK) - sind daher Hauptthemen im ländlichen Raum momentan die weltweiten Phosphatkreisläufe und der Biodiversitätsverlust. Was das ist? Der letztere dieser beiden nach Fachchinesisch klingenden Begriffe ist vielleicht besser bekannt als Artensterben oder früher mal Artenschutz.

Die Biodiversität

Dass man den Begriff Biodiversität erklären müsste, sollte aber seit dem großen Presseecho auf das Österreichische Biodiversitätsforum 2023, das wesentlich auf die Arbeit des an der UWK angesiedelten Austrian Biodiversity Hub beruht, der Vergangenheit angehören. Auf dem Land merkt ohnehin jeder, der mit offenen Augen und Ohren durch die Landschaft geht, dass es stiller geworden ist: Das Verstummen von Insekten, Vögeln und Kleintieren ist ein erstes Zeichen, dass etwas Einschneidendes im Gange ist.

Die politischen Aspekte dieser Krise – zuletzt in Gestalt der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Wiederherstellung der Natur – beschäftigen viele, deren Lebensunterhalt aufs engste mit dem Naturraum verbunden sind, in dem sie auch leben. Das sind in erster Linie die Menschen im ländlichen Raum. Hier und weniger in den Städten wird sich entscheiden, wie es uns gelingt, mit der umfassenden Polykrise umzugehen.

Polykrise bedeutet eine Verschränkung von mehreren einander wechselseitig beeinflussenden und verstärkenden existenziell bedrohlichen Herausforderungen, welche einen kritischen Punkt - das ist die Krise im eigentlichen Sinn - erreicht haben, der einen Kollaps des System (in diesem Fall also des ländlichen Lebensraums und der damit verbundenen Lebensweise der Menschen) in die eine oder andere Richtung befürchten lässt. Ganz egal ob Krisen mehr oder weniger erfolgreich bewältigt werden können, die notwendigen Maßnahmen zur Krisenbewältigung und ihre Folgen sind auf jeden Fall erheblich.

Gibt es mehrere in Verbindung stehende Krisen, bleiben die Auswirkungen aber besonders oft nicht auf einen Bereich beschränkt, sondern ihre Auswirkungen verschränken sich und greifen rasch und oft unvorhersehbar auf benachbarte Bereiche über.

Die Coronapandemie hat uns das deutlich vor Augen geführt: Was als Krise im Bereich öffentliche Gesundheit begann, wurde a) über die unterbrochenen Lieferketten zu einer wirtschaftlichen Herausforderung, b) wegen – etwa durch Reisebeschränkungen – ausgebliebener Erntearbeiter zu einem ernährungspolitischen Dilemma, und c) infolge der Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit dem Krisenmanagement zu einem demokratiepolitischen Problem.

Es soll hier noch angemerkt werden, dass die Verschränkung unterschiedlicher Bereiche auch positive Effekte ermöglichen kann: In einer kurzen Phase des Lockdowns zeigten sich massive Auswirkungen auf Krisenphänomene in anderen Systemen wie Luftqualität, Verkehrsbelastung oder Energieverbrauch und damit den Ausstoß von Treibhausgasen. Überall da verbesserten sich kurioserweise ausgerechnet durch die Coronapandemie die Werte. Komplexität ist also ein Schwert, das in zwei Richtungen schneiden kann. Das ist ein Umstand, den wir nicht vergessen sollten, weil Krisen dadurch Chancen eröffnen.

Die Polykrise auf dem Land zwischen Menschen und Umwelt

Diese Polykrise im ländlichen Raum spielt sich an der Schnittstelle zwischen dem Menschen-Umweltsystem und den „zivilisatorischen“ - also menschgemachten - Teilsystemen (etwa Wirtschaft, Technologie, Gesellschaft und Kultur usw.) ab. Die aktuelle Polykrise entzündet sich daher spezifisch an der Mensch-Umwelt-Interaktionen und kann aufgrund ihrer vielen Facetten und der ihr eigenen Komplexität nur in transdisziplinärer Weise sinnvoll analysiert und bewältigt werden.

Transdisziplinär bedeutet hier, dass nur durch eine gelungene Bündelung des notwendigen Wissens aus Wissenschaft und Praxis in allen Stationen der Krisen, eine der Komplexität der Herausforderung angemessene Antwort gegeben werden kann. Diese Stationen laufen vom Ökosystem über das wirtschaftliche und technologische System bis hin zur Gesellschaft und deren kulturellen Überbau, der ihr Sinn und Zusammenhang verleiht. Dabei wird die Nichtberücksichtigung spezifischer Wissensquellen und -träger zum „no go“, und zu einer Wissensverschwendung, wenn wir die komplexen Herausforderungen mit bestem Wissen und Gewissen bewältigen wollen.

Die Phosphorkreisläufe

Hier kommen wir von der Biodiversität hin zum Phosphor als chemisches Element. Phosphorverbindungen sind für alle Lebewesen überlebensnotwendig und bei Aufbau und Funktion von Organismen in zentralen Bereichen beteiligt. Ein gutes Beispiel für Polykrisen als Herausforderung ist das Thema der weltweiten Ressourcenkette von Phosphor als zentralem Element einer anzustrebenden globalen Nahrungsmittelsicherheit, welches an der UWK im Transdisziplinären Laboratorium „Sustainable Mineral Resources (SMR Td-Lab)“ und spezifisch im Projekt P-DaKH („Phosphate Data and Knowledge Hub“) intensiv untersucht wird.

Phosphor als unersetzliches Element in der Kette des Lebens stellt, wie der US-amerikanische Chemiker und Autor Isaac Asimov so treffend feststellte, den absoluten Flaschenhals des Lebens dar: Jede Zelle braucht Phosphor und die verfügbare Menge an Phosphor im globalen Kreislauf des Lebens ist damit die absolute Grenze dessen, wie viel „Leben“ auf dem Planeten Erde möglich ist.

Seit über 150 Jahren ist der weltweite Phosphatkreislauf (genauso wie jener der beiden anderen wesentlichen mineralischen Dünger Nitrat und Pottasche) durchbrochen, d.h. die Landwirtschaft entnimmt den Böden mehr Phosphat als auf natürlichem Weg an diese zurückgegeben wird. Die gewaltigen Steigerungen der landwirtschaftlichen Erträge seit dem 19. Jahrhundert – zuerst in den westlichen Industrienationen, seit der „Green Revolution“ der Nachkriegszeit auch in Teilen der Länder des Globalen Südens – war nur durch die Gabe von „Kunst“-Dünger bzw. mineralischem Dünger (und dem erhöhten Energieinput durch die Mechanisierung der Landwirtschaft) möglich.

Effektiv verwandelt unser industrialisiertes landwirtschaftliches System mineralische Rohstoffe (Phosphatgestein) und fossile Kohlenwasserstoffe - als Treibstoff in Landmaschinen und Rohstoff des Nitrifizierungsprozesses zur Herstellung von Stickstoffdünger - in Lebensmittel. Nur so konnte die enorm wachsende Bevölkerung der Erde bisher ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden.

„We feed the world“ – frei übersetzt als „Essen für die Welt“ - ist kein leerer Slogan, sondern gibt schon recht treffend die Realität eines weltweit vernetzten, industrialisierten, landwirtschaftlichen Systems wieder, in dem die extrem hohe Produktivität spezifischer landwirtschaftlicher Regionen und Betriebe maßgeblich für die Nahrungsmittelsicherheit großer Bevölkerungen, die ganz wo anders auf dem Planeten Erde leben, sein kann.

Der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Engpässe am internationalen Markt für Getreide (und von Düngemitteln durch die Sanktionierung der russischen Exporte) hat dies erneut deutlich gemacht und – nachdem dies schon lange kein Thema mehr zu sein schien – auch in umfassend globalisierten Volkswirtschaften wie Österreich so scheinbar altmodische Begriffe wie „Selbstversorgungsquoten“ wieder aus der Mottenkiste der Volkswirtschaftslehre auftauchen lassen.

Die Forschungsfragen an der Universität für Weiterbildung in Krems

Unter diesem Eindruck sind die Forschungsfrage und der Auftrag des Kremser „Phosphate Data and Knowledge Hub“ nachvollziehbar und in ihrer kritischen Bedeutung vielleicht besser abschätzbar: Es geht um jede Stufe der Verwertungskette vom Abbau des Phosphatgesteins aus den Minen, dessen Verarbeitung zu Dünger und Ausbringung auf landwirtschaftlich nutzbare Anbauflächen und über den tierischen und menschlichen Nahrungsmittelkreislauf bis zu den Abwässern und am Ende den Wasserkreislauf.

Obwohl es keine „Phosphat-Krise“ gibt, also auf lange Zeit – Jahrtausende tatsächlich – kein absoluter Mangel an Phosphor besteht, gibt es aktuell nicht nur wegen der kriegsbedingten Verknappungen auf den Düngemittel- und Nahrungsmittelmärkten zahlreiche Probleme. Dazu zählen beispielsweise eine Überdüngung der Meere und das daraus resultierende Algenwachstum, welches bereits jetzt zu toten Zonen beispielsweise in der Ostsee führt.

Um wieder durch unser anderes Brillenglas – das der Biodiversität – zu schauen, haben wir es hier mit mehreren der vorher beschriebenen „Spillover“-(Folge-)Effekte zu tun: Die Überdüngung und mechanische Überbeanspruchung gerade der bisher produktivsten Ackerböden hat maßgeblich durch die Schädigung des Bodenlebens und der Ackerkrume zur fortschreitenden Bodenverschlechterung und Erosion beigetragen.

Die Ausspülung des ineffektiv eingesetzten Phosphatdüngers in die Gewässer und am Ende die Meere führt dort zu explosivem Algenwachstum und damit zu katastrophalen Artensterben. Dieses bedroht wiederum in Kombination mit der Erwärmung der Meere durch den Klimawandel ehemals reiche Fischgründe und damit die Ernährungssicherheit wachsender Bevölkerungen in den Megastädten des Globalen Südens. Diese wiederum heizt lokale Konflikte und internationale Migration an.

Viel näher zuhause betrifft er den Erhalt der Biodiversität, die notwendig ist, um Landwirtschaft auf diesen Flächen in Zukunft überhaupt weiter betreiben zu können. Begegnen wir dieser Krise nicht, wird es weitere Folgeeffekte

  1. wirtschaftlich (Existenzsicherung von landwirtschaftlichen Betrieben),
  2. sozial (Weiterbestehen einer ländlichen und primär agrarischen Siedlungsstruktur und Lebensweise) und schlussendlich
  3. kulturell (Erhalt bäuerlicher Identitäten und ländlicher Tradition)

geben, an die im ersten Moment niemand denkt, wenn man sich mit der Frage befasst, ob man eines der Lecks im weltweiten Phosphatkreislauf durch die Entwicklung effektiverer Düngemittel stopfen könnte. Es braucht Düngemittel auf dem Markt, die ihre Phosphatanteile über längere Zeit und besser angepasst an den Bedarf der Nutzpflanzen abgeben und welche außerdem zielgerichtet sowie exakt dosiert durch smarte – vorzugsweise CO2-neutrale – Landmaschinen abgegeben werden.

Vielfältige Zusammenhänge - Komplexität genannt - lassen sich in der realen Welt nicht reduzieren. Wir neigen nur dazu, sie aus den Augen zu verlieren oder zu ignorieren, um nicht von ihr überwältigt zu werden. Am Ende ist sie aber da und fordert, dass wir uns ihr stellen.

Die praktischen und wissenschaftlichen Herausforderungen

Schauen wir durch unsere Brille mit diesen beiden Linsen auf den ländlichen Raum in Österreich, treten spezifische Herausforderungen, wie man an unseren Beispielen schon sehen konnte, besonders deutlich hervor. Unsere Perspektive - wie auch der Blickwinkel anderer Wissenschaftler, die sich um die Zukunft des ländlichen Raums, der dort lebenden Menschen und ihrer Lebensweise Gedanken machen - erfasst zugegeben nur eine Seite eines vielseitigen und komplexen Gewebes von Herausforderungen.

Einer solchen Herausforderung kann nur mit einer übergreifenden Wissenszusammenfügung („transdiziplinäre Wissensintegration“) begegnet werden. Und hier liegt die Chance für all jene Menschen im ländlichen Raum, die dort tagtäglich mit den unmittelbaren und praktischen Auswirkungen der Polykrise konfrontiert sind: Bodenverschlechterung, Erosion, Austrocknung, Klimawandel, Mobilität, Überalterung, Bodenversiegelung, Strukturwandel …

Transdisziplinarität, wie sie an der Weiterbildungsuniversität in Krems betrieben und weiterentwickelt wird, versteht Wissenschaft als öffentliches Gut. Das bedeutet, Wissenschaft soll zum Wohle der Gesellschaft und für die Menschen sein, aber vor allem auch durch die Menschen und mit den Menschen. Nicht nur Wissenschaftler sondern auch Praktiker vor Ort müssen gemeinsam und auf Augenhöhe an konkreten Herausforderungen in der wirklichen Welt arbeiten. Sie sollen gemeinsam ein Verständnis für die notwendige Komplexität entwickeln, indem sie ihre Ideen und Kreativität unter Rücksichtnahme auf berechtigte Interessen und Werte bündeln.

Was wir tun und mit dem ländlichen Raum tun wollen

Dadurch kommen robuste Orientierungen für Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Bevölkerung heraus, die in der gesellschaftlichen Realität auch bestehen können. Schon jetzt arbeiten wir in zahlreichen Projekten mit Partnern im ländlichen Raum an den unterschiedlichsten Herausforderungen und bringen auch - im Rahmen unseres innovativen ERASMUS Mundus Masterstudiums TISE („Transition, Innovation and Sustainability Environments“) - junge Studierende aus aller Welt in Kontakt mit regionalen und lokalen Herausforderungen im ländlichen Raum.

An einer gesellschaftlich aktiven Forschungseinrichtung wie unserer Universität sind die Tore des oft fälschlich zitierten Elfenbeinturms weit geöffnet. Ihre Herausforderungen im ländlichen Raum sind unsere Herausforderungen, denn in einer komplexen und komplizierten Welt der Polykrise kann jede Lösung genauso nachhaltige Effekte auf andere Bereiche haben.

Sie alle sind als Leser auch Experten aus der Praxis für Ihre Herausforderungen, Ihre Gegebenheiten und Rahmenbedingungen und Sie wissen am besten, was die Interessen und Werte sind, für die Sie sich einsetzen wollen. Wir stehen zur Verfügung, unser Netzwerk des Wissens mit dem Ihren zu verknüpfen. Wir sind davon überzeugt, dass wir alle viel voneinander lernen können.