Stephan Heid

"Vereinfachung hat nicht stattgefunden"

Der Vergabeexperte Stephan Heid spricht im Interview über die Komplexität des neuen Vergaberechts. Neben den Schwierigkeiten sieht er auch Vorteile für die Gemeinden und erwartet auch mehr Rechtssicherheit.

Mit der Novelle zum Vergaberecht hat sich – jedenfalls aus Sicht des Gemeindebundes – die Vernunft durchgesetzt. Dennoch herrscht eine gewisse Skepsis, weil immer noch viele vor allem kleinere Gemeinden mit dem Gesetz überfordert sind. Und man befürchtet, dass es auch für viele KMU zu kompliziert ist. Wie sehen Sie das?

Stephan Heid: Ich sehe das grundsätzlich genauso wie die Gemeinden oder die KMU, weil das Vergaberechtsreformgesetz 2018, wie es korrekt heißt, insgesamt in allen seinen Teilen mehr als 700 Seiten hat. Selbst wenn man jetzt nur den für Gemeinden relevanten Teil des Bundesvergabegesetzes hernimmt, dann sind das mehr als 380 Paragraphen und mehr als 20 Anhänge. Die viel beschworene und herbeigesehnte Vereinfachung des Vergaberechts hat damit sicher nicht stattgefunden.

Positiv ist, dass trotz der Fülle der Bestimmungen die Werkzeugkiste größer geworden ist. Das bedeutet, dass es mehr Instrumentarien gibt, um auch auf die Bedürfnisse des kommunalen Bereichs einzugehen. Konkret betrifft das zum Beispiel einen erleichterten Zugang zu Verhandlungsverfahren oder öffentliche Kooperationen, die gänzlich vergabefrei sind …

Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber welche öffentliche Kooperationen sind da gemeint?

Damit ist die echte Zusammenarbeit oder Kooperation von Gebietskörperschaften gemeint oder von öffentlichen Auftraggebern und Gebietskörperschaften, aber unter Ausschluss von Privaten. Diese Kooperation ist erleichtert worden und es gibt hierzu genaue Abgrenzungen, unter welchen Voraussetzungen das zulässig ist. Das bringt schlussendlich Rechtssicherheit.

Eine große Frage betrifft grenzüberschreitende Ausschreibungen und Vergaben. Sehen Sie hier Nachteile für Gemeinden bzw. die österreichische Wirtschaft oder eher Vorteile?

Ich bin da grundsätzlich skeptisch, vor allem vor dem Hintergrund der „Möglichkeit der Rechtswahl“. Das ist das auf den Vertrag anwendbare Recht beziehungsweise der Gerichtsstand, wo im Konfliktfall Streitigkeiten zu lösen sind.

Hier sehe ich das manifeste Risiko, dass bei grenzüberschreitenden Beschaffungen nach ausländischem Recht vorgegangen wird, wo die Folgen für österreichische Auftraggeber aufgrund der ausländischen Judikatur schwer abschätzbar sind. Und sicher werden höhere Zugangskosten zum Recht anfallen. Ich bin hier sehr skeptisch.

Wenn ein Auftragnehmer in Bayern zehn Kilometer entfernt ist und ein vergleichbarer in Österreich 100 Kilometer sitzt, wie bewerte ich den ökologischen Fußabdruck? Und wie sehr unterscheidet sich das Vergaberecht in Deutschland von dem in Österreich?

Das Vergaberecht hat mit der EU-Vergaberichtlinie die gleiche europäische Mutter. Aber wir sehen jetzt schon bei grenzüberschreitenden Vergabeverfahren – etwa beim Brenner-Basistunnel – dass die Abgrenzung zwischen italienischem und österreichischem Recht in der Praxis höchst komplexe Fragen aufwirft. Etwa im Zusammenhang mit der Frage, was geschieht, wenn ein ausländischer Bieter insolvent wird und das dann nach ausländischem Konkursrecht zu beurteilen ist.

Im Grunde können wir derzeit noch gar nicht richtig abschätzen, was da an Rechtsfragen auf uns zukommt.

Was halten Sie von der „Faustregel des Justizministeriums (zitiert nach dem Kommentar von Walter Leiss): „Je höher der Wert, je näher der Leistungs- und Nutzungsort an einer Staatsgrenze und je spezifischer der Auftragsgegenstand, desto eher muss von einem grenzüberschreitenden Interesse ausgegangen und ein angemessener Grad von Öffentlichkeit sichergestellt werden.“ Wie wird das in der Praxis handzuhaben sein?

Es wird hier ganz maßgeblich auf die Auslegung der Vergabekontrollbehörden ankommen. Solange Sachverhalte in Österreich vor Bundes- oder Landesverwaltungsgerichten entschieden werden, sehe ich noch Hoffnung, mit solchen Faustregeln erfolgreich argumentieren zu können.

Dort, wo Sachverhalte an den Europäischen Gerichtshof herangetragen werden, hat sich in der Vergangenheit eines gezeigt: Der EuGH hat bereits bei relativ geringen Auftragswerten – konkret ging es da um rund 30.000 Euro – bereits ein grenzüberschreitendes Interesse angenommen.

Bei der Frage nach dem Zusammenrechnen von mehreren Dienstleistungsaufträgen (müssen eben nicht zusammengerechnet werden und daher auch nicht EU-weit ausgeschrieben, falls sie den Schwellenwert von 235.000 Euro überschreiten) wurde den Wünschen des Gemeindebundes entsprochen. Was genau versteht denn das Vergaberecht unter dem Begriff „Dienstleistung“, welche Tätigkeiten fallen darunter?

Dienstleistungen sind all jene Leistungen, die nicht explizit Bau- oder Lieferleistungen sind. Damit ist das ein sogenannter „Auffangtatbestand“, etwas, dass im Laufe der Jahrzehnte enorm an Bedeutung gewonnen hat. Zuletzt wurden auch die sozialen Dienstleistungen hereingenommen, was die Bedeutung zusätzlich steigert und vor allem die Gemeinden unmittelbar betrifft – ich denke da an Altenpflege und dergleichen.

Skepsis ist aber angebracht, was die getrennte Berechnung von Auftragswerten von Dienstleistungen betrifft. Die Position des Gemeindebundes oder der Ziviltechnikerkammer, dass hier nach „Fachgebieten“ getrennt die Dienstleistung zu berechnen sei, hat nicht Eingang ins Gesetz gefunden. Der § 16 Absatz 4 des Bundesvergabegesetzes unterteilt nicht nach Fachgebieten, sondern es gibt lediglich eine authentische Interpretation des Verfassungsausschusses – darunter ist eine (wesentliche) Stimme im Gesetzwerdungsprozess zu verstehen, um den Willen des Gesetzgebers für eine Interpretation ermitteln zu können. Das hat in der Hierarchie der Rechtskraft von österreichischen Normen viel weniger Bestand, als wenn es gesetzlich festgeschrieben wäre. Da muss man schon vorsichtig sein, ob das in der Praxis auch so hält.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich jedenfalls in anderen Fällen ganz strikt an den Wortlaut des Gesetzes gehalten und nicht geachtet, was in den Materialien oder einer Interpretation steht.

Die nächste Novelle steht auch schon ins Haus, wenn nämlich die elektronische Vergabe von Aufträgen kommt. Schießt man da vor allem bei der Unterschwellenvergabe nicht übers Ziel hinaus?

Status Quo ist, dass die e-Vergabe ab 18. Oktober 2018 für alle Oberschwellenaufträge verbindlich sein wird. Große, mittlere und auch kleinere Auftraggeber stellen sich derzeit gerade auf diese Situation ein. Jene, die sich auf die elektronische Beschaffung bereits eingestellt haben und das praktizieren, erkennen in der Praxis, dass ein Ausrollen auf den Unterschwellenbereich Vorteile hat.

Anders gesagt, ich kenne praktisch keine Auftraggeber, die eine im Oberschwellenbereich praktizierte e-Vergabe nicht freiwillig auch im Unterschwellenbereich anwenden. Mittel- und langfristig wird auch ohne gesetzliche Verpflichtungen damit zu rechnen sein, dass die e-Vergabe flächendeckend kommt.

Die letzte Frage betrifft die Schwellenwerte. Leider – aus Gemeindesicht jedenfalls – wurden die Schwellenwerte nicht per Gesetz mit 100.000 Euro fixiert, sondern wieder verlängert. Sehen Sie eine Chance, diesen höheren Schwellenwert künftig gesetzlich zu fixieren?

Ich glaube, dass die österreichische Praxis, das nicht ins Gesetz aufzunehmen, sondern mit einer separaten Verordnung jeweils für zwei Jahre zu verlängern, sehr clever ist. Damit bleiben wir unter dem Radar der EU-Kommission.

Würde das in Gesetzesstand erhoben, würde es mit Sicherheit mehr Aufmerksamkeit erzeugen. Das wäre wieder mit dem Risiko verbunden, dass Österreich diese Regelung komplett abgedreht wird.

Zur Person

Stephan Heid

Dr. Stephan Heid ist Gesellschafter der Kanzlei „Heid Schiefer Rechtsanwälte“ ist stv. Vorstandsprecher der IG Lebenszyklus Bau, Herausgeber der Zeitschrift "Recht und Praxis der öffentlichen Auftragsvergabe - RPA". Einer seiner Schwerpunkte ist die Ausschreibung von Bauleistungen im Hoch- und Tiefbau.